Montag, 12. Februar 2018

Interview mit Irmgard Kramer zum Erscheinen von 17 Erkenntnisse über Leander Blum




Interview mit Irmgard Kramer zum Erscheinen von 17 Erkenntnisse über Leander Blum

Liebe Irmgard „Leander Blum“ war mein erstes Jugendbuch, das ich von Dir gelesen habe, auch wenn es nicht Dein erstes war. Bei den Danksagungen las ich, wie viele Jahre Du an diesem Buch bereits gearbeitet hast, woran lag es, daß es so lange dauerte?
Bei mir dauert das immer so lang. Das erste Buch, das ich geschrieben habe, war „Am Ende der Welt traf ich Noah“. Es hat 11 Jahre gedauert bis es erschienen ist. Natürlich schreibt man nicht permanent dran, aber es muss reifen und wachsen. Andere haben das offenbar besser drauf als ich. Ich muss viele Umwege gehen. Für dieses Buch habe ich 800 Seiten geschrieben, die ich komplett vernichten musste. Ganz allein hätte ich das nicht geschafft.
Nachdem ich mich über 800 Seiten in eine fiktive Bilderwelt geschrieben habe und merkte, dass das nicht funktioniert, wollte ich aufgeben. Bis meine Agentin kam und mir die richtigen Fragen gestellt hat. Plötzlich habe ich gesehen, worum es wirklich geht. Dafür musste ich leider 800 Seiten löschen. Aber wenige Szenen blieben übrig und die waren wichtige.
Ich glaube, ich kann nicht gut plotten. Ich habe zu viele Ideen. Ich will zuviel. Ich verstricke mich. Es gibt zu viele Abzweigungen und manchmal weiß ich nicht, ob ich nach links oder nach rechts gehen soll. Meistens ist es meine Agentin, die es schafft, meine Gedanken anzustupsen und in eine andere Bahn zu lenken. Wenn ich dann einer Figur nahekomme, weiß ich erst, was ich wirklich erzählen will.
 Außerdem habe ich den Anspruch an mich selbst, eine mehrdimensionalen Geschichten zu erzählen. Ich will keinem Null-Acht-Fünfzehn-Rezept folgen, sondern mehrere Schichten übereinanderlegen. Ich will den Leser überraschen, ihm Rätsel aufzugeben und ihn im besten Fall mit Überraschungen und unerwarteten Wendungen belohnen. Er soll ja was dafür kriegen, dass er sich die Mühe macht, so viele Seiten zu lesen. Aber so eine Geschichte schreibt man eben nicht über Nacht – also ich nicht.
War „Leander“ eigentlich das erste Buch, das Du begonnen hast, wenn auch erst später beendet? Gab er den Anstoß den Schuldienst zu verlassen?
Nein. Das war „Am Ende der Welt traf ich Noah“. Danach, beziehungsweise dazwischen, schrieb ich „Die indische Uhr“ – auch dafür habe ich vier Jahre gebraucht. Mit Noah begann alles. Mit Noah kam der Wunsch, vom Schreiben leben zu können und eines Tages mein eigenes Buch in Händen zu halten. Es hat – wie ich oben geschrieben habe – elf Jahre gedauert.  
Dieser Roman ist voller Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten, fernab vom Durchschnitt. Wer ist Dein liebster „Nebendarsteller“ in diesem Roman?
Oh, das ist, wie wenn man eine Mutter fragt, wer ihr liebstes Kind ist. Ich mag sie alle. Besonderes Mitgefühl hab ich für Jonas‘ Vater. Und auch für Leanders‘ Vater. Ich glaube, der war als junger Mann ziemlich cool. Aber an dem Punkt, als er sich entschied Polizist statt Maler zu werden, hat er sich selbst verraten und es blieb ihm nur noch die Flucht in den Alkohol. Weißt du eigentlich, liebe Dani, was für ein schönes Gefühl ist, sich mit anderen Menschen darüber zu unterhalten? Es ist das erste Mal, dass ich das tu. Das Buch erscheint ja erst in ein paar Tagen. So viele Jahre war ich allein mit meinen Figuren. Und plötzlich ziehen sie hinaus in die Welt. Ich empfinde das als großes Privileg. So lange habe ich nur für mich selbst geschrieben. Dass es da auf einmal lebende Menschen gibt, die sich dafür interessieren, ist nicht selbstverständlich. Dafür will ich dir danken.    
Wie hast Du PEKS, Deinen Streetart-Berater eigentlich entdeckt? Durch seine Werke an den Wänden Wiens oder durch Recherche?
Tja, wie soll ich sagen. Die Geschichte ist sehr banal. Und ich hoffe, er ist mir nicht böse. PEKS ist mein Neffe. Tatsächlich hat mich seine Leidenschaft inspiriert. Er hat als 14-jähriger verbotene TAGS an Wänden hinterlassen, und plötzlich stand ein Polizist in Zivil in der Wohnung meiner Schwester und hat sich Zugang zum Keller verschafft, der über und über besprayt ist. Durch PEKS habe ich einen Einblick in eine Welt bekommen, die mir bisher verborgen war. PEKS hat Theater-, Film und Medienwissenschaften studiert. Er hat sich intensiv mit Kunst im öffentlich Raum beschäftigt, hat das Thema für sich selbst von allen Seiten beleuchtet und das Malen selbst stets verfolgt. Nun ist es so weit, dass er seine Leidenschaft zu seinem Beruf machen kann. Er wird für Auftragsarbeiten gebucht, darf scheußliche Wände, Unterführungen, Etiketten von Flaschen und alles Mögliche bemalen. Und er gibt Graffiti-Workshops an Schulen. Den Schülern, und den Lehrern, macht das sehr viel Spaß.
PEKS ist mit mir öfters durch Wien gegangen. Er konnte mir zu jedem Piece eine kleine Geschichte erzählen. Er konnte mir erklären, wer und was hinter den Bildern steckt. Er konnte mir sagen, wer nur zerstören und Dagegensein will und wer etwas zu sagen hat. Er hat mir erklärt, wie die einzelnen Crews untereinander agieren, wer wen übermalt, wer wen respektiert. Er nahm mich mit in all die Läden. Er nahm mich mit zur Donaubrücke. Die Szene, in der die Modells für ein Fotoshooting posen, habe ich original erlebt – PEKS hat das Piece für das Fotoshooting gemalt. Es war eine Auftragsarbeit für den Vienna Hip-Hop-Ball. Über acht Stunden ist er in der Kälte gestanden, an einem Sonntag, und hat gesprayt bis ihm die Arme abfielen – das alles ist auch körperlich eine große Herausforderung. Also für mich. Nicht für ihn. Ich durfte das am eigenen Leib erfahren. Denn natürlich hat er mich zu einer freien Wiener Wand geschleppt und ich habe mein eigenes Piece gesprayt. Sagenhaft dilettantisch. Aber plötzlich hab ich gespürt, was da dahintersteckt. Mir fielen schon nach 4 Buchstaben die Finger ab. Meine Linien waren dick und fett. Er nahm dann die gleiche Dose und zauberte eine hauchdünne Linie an die Wand.   
Leander und Jonas haben stets konkrete Farben mit der Typenbezeichnung vor Augen. Das fand ich sehr faszinierend, war das der Einfluß von PEKS künstlerischer Beratung?
Nein. Das war mein eigener Anspruch. Tatsächlich habe ich mich sehr lange mit den Farbbezeichnungen von Spraydosen und den Farbbezeichnungen von Öl- und Acrylfarben beschäftigt. Rot ist nicht Rot. Die Namen für diese Farben fand ich extrem anregend. Da müssen ein paar Dichter am Werk gewesen sein, auf jeden Fall sehr gute Beobachter. Und wenn ich mich in Leander hineinversetze, kann ich mir vorstellen, dass er die Welt anders sieht als wir. Lilas Haare sind für ihn nicht blond. Denn was genau ist blond? Wie würde er dieses Blond malen? Es gibt keine Farbe, die „Blond“ heißt. Würde er sie mit Gelb malen? Wohl kaum. Verstehst du, was ich meine? Leander Blum würde das Blond ihrer Haare mit folgenden Farben malen: helles Permanentgelb, Aureolin, Zinkweiß, Caput Mortuum, Zinnober, feuriges Chromoxidgrün
Leander und Jonas verdankten ihrem Sportlehrer genannt „der Drill-Sergeant“ ihre Fitness, hilfreich bei der Flucht vor ermittelnden Polizisten. Was verdankst Du Deinen Lehrern?
Uiuiui. Deine Fragen haben es in sich. Ich hatte das Pech nur wenige gute Lehrer zu kriegen. Lass mich die Guten mit Namen erwähnen. Sie haben es verdient: Kurt Sterzl, Birgit Intemann und Peter Niedermair. Das waren Deutschlehrer. Sie haben mir gegeben, wonach ich suchte. Ansonsten hatte ich im Laufe von 12 Schuljahren unfassbar viele grottenschlechte, unpädagogische, unmotivierte Langweiler. Mein Geschichtelehrer hat aus einer Mappe vorgelesen und kaum lesbare Matrizen verteilt. PEKS hatte eine Generation später den gleichen Lehrer – die Mappe und die Zettel waren immer noch die gleichen – nur noch unlesbarer. Gelernt habe ich vor allem an den sadistischen, menschenverachtenden, rassistischen Lehrern. Insofern ist deine Frage wirklich gut. Denn für den Drill Sergeant gibt es ein realistisches Vorbild. Er war im Gymnasium acht Jahre lang mein Klassenvorstand. Ich spüre heute noch Wut, wenn ich an ihn denke. Auch mein Physiklehrer war ein Sadist. In seiner Klasse haben im Laufe eines Schuljahres drei Mädchen versucht sich das Leben zu nehmen. Sein Kommentar dazu: „Selbst dafür sind sie zu blöd.“ In dieser Zeit habe ich gelernt, mich gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen. Ich habe versucht für die Schwachen zu kämpfen. Das hat zwar im Augenblick nichts genützt, aber es hat mich stark gemacht. Und die lähmende Angst, die ich vor jeder Physikstunde hatte, habe ich auch nicht vergessen – hilft vielleicht beim Schreiben, wenn man so etwas erlebt hat. Auf jeden Fall war das eine intensive Zeit.
Lila backt sehr gerne, aber auf traditionelle Art, mit Butterflocken verteilen auf gesiebtem Mehl. Backst Du selbst auch gerne? Man sieht ja schon schneller das Ergebnis seiner Arbeit, als beim Schreiben.
Nein. Ich backe nur einmal im Jahr. Jeden Mai gibt es einen Gugelhupf. Das ist alles. Sonst backe ich nie Kuchen. Was ich aber vor einem halben Jahr entdeckt habe, ist das Brotbacken. Und zwar aus Not, weil ich diese aufgebackenen Teiglinge nicht mehr schmecken mag und weil die guten Bäckereien in unserem Dorf schließen mussten, weil keiner mehr bereit ist, für gutes Brot anständiges Geld zu zahlen. Diese Entwicklung macht mich traurig. Aber so hab‘ ich eben selbst angefangen Brot zu machen. Und jetzt weiß ich: Es ist nicht einfach. Und es braucht sehr viel Zeit. Ich rede nicht von irgendwelchen Backmischungen. Um gutes Brot hinzukriegen – mit einer Mischung aus Sauerteig und Hefe-Vorteig – brauche ich mindestens drei Tage.
Mir gefielen auch die kleinen feinen Einblicke in die Wiener Gesellschaft in ihrer Vielschichtigkeit. Student Arsim, der Döner verkauft, um das Studium zu finanzieren und mit falschem Akzent spricht,  Jonas gutbürgerliche Oma, der Obdachlose Karl, Oswalda in ihrer ganzen Pracht des alten Geldes, die Lehrer…..  irgendwie prägt Wien die Geschichte schon. War es Dir wichtig, sie nicht an einem namenlosen Ort spielen zu lassen?
Da hast du mich jetzt erwischt. Ich war mir nämlich unsicher. Ursprünglich sollte die Geschichte in einer namenlosen Großstadt spielen. Den Donaukanal machte ich zu einem Kanal, den Schwedenplatz zum Norwegerplatz und den Prater zum Rummelplatz. Das kam mir dann aber absurd vor. Es erschien mir wie ein Verrat. Ich bin zwar viel in Wien, aber ich bin nicht dort geboren. Ich glaube, ich habe das Wort „Wien“ in dem ganzen Buch nicht oder nur sehr spärlich verwendet. Ich wollte, dass sich jeder Leser mit der Geschichte identifizieren kann. Also auch einer, der in Berlin, Hamburg oder Mannheim lebt. Denn auch dort gibt es eine aktive Graffiti-Szene. Was allerdings ein Problem war, war die Sprache. Wiener erkennen sehr wohl, dass die Geschichte in ihrer Stadt spielt. Nur die Figuren sprechen nicht so. Das hat man mir schon vorgeworfen. Aber hätte ich in jedem zweiten Satz urarge Wiener Ausdrücke verwendet, hätten mir die Wiener das wohl auch vorgeworfen und die Deutschen hätten sie vielleicht nicht verstanden. Das ist ein schwieriges Kapitel. Ich habe den Wiener Jugendlichen auf den Mund geschaut. Und was wirklich traurig ist: Die meisten sprechen nur noch in „Netflix“. Das heißt, sie finden es cool das Deutsch aus Serien zu imitieren. Sie verlieren ihren Dialekt. Erst wenn man junge Menschen darauf anspricht, fangen sie an nachzudenken und sagen: „Hm, stimmt eigentlich.“ Was unsere Dialekte anlangt, haben wir euch Deutschen gegenüber sowieso einen Komplex.
Den Knaller fand ich ja auch die Namen der Kunstkritiker, Galeristen und Gönner zu Kapitelbeginn. Wie bist Du denn auf die gekommen? Als sie alle am Ende gemeinsam erschienen, hätte ich mich fast schlappgelacht.
Da bin ich nicht einfach so draufgekommen. Das habe ich mir mühsam und mit sehr, sehr viel Recherche erarbeitet. Ich habe mir unzählige Dokus und Filme über Maler angesehen, über moderne, noch lebende und längst Verstorbene. Ich habe Kunstzeitschriften studiert. Ich habe Ausstellungskataloge gesammelt. Ich war auf Ausstellungen, in Galerien und habe Vernissage-Reden nachgelesen und angehört. Ich habe deren Wortschatz gesammelt und meine eigenen kleinen Kritiken daraus geschrieben. Die Namen dafür zu finden, war hingegen pures Vergnügen. Das ist die kleinere Übung dieses Spiels.
Und zum Schluß: Was bestellst Du in einem Wiener Kaffeehaus?
Einen Schwarzen Verlängerten. Vielen Dank für dein Interesse.
Und wer nun neugierig ist, kann nicht nur das Buch verschlingen (dringend empfohlen) sondern auch PEKS in Wien oder auf Facebook bewundern https://www.facebook.com/peksr/

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