Freitag, 22. September 2017

Die Stadt des Zaren, Martina Sahler, List



Die Stadt des Zaren, Martina Sahler, List
1703 mit dem ersten Spatenstich zur Errichtung von Sankt Petersburg, als dem Tor Russlands zur Ostsee und dem Beginn einer russischen Seemacht, setzt sich Zar Peter der Große ein urbanes Denkmal, daß bis heute noch Bewunderung hervorruft.
Doch ähnlich wie der Charakter des Zaren, war auch die Stadtgründung zweischneidig. Diese neue Stadt eröffnete neue Möglichkeiten und Chancen, sie sollte Russland Aufklärung und Erkenntnis bringen. Doch die, die die schwersten Arbeiten verrichteten, die Kriegsgefangenen und Leibeigenen hatten nichts von diesen neuen Möglichkeiten zu Ruhm und Reichtum zu gelangen.
Vor allem Ausländer, die meist auf Einladung des Zaren persönlich kamen, wußten diese Chancen zu nutzen. Aus der Moskauer Ausländervorstadt zieht die deutsche Arzt Familie Albrecht an die Newa, weil die Hoffnung auf eine neue Gesellschaftsordnung und Bildungschancen (eventuelle könnte die wissbegierige jüngste Tochter dort sogar studieren) gerade die abenteuerlustige Mutter Frieda und die jüngere Tochter Paula reizen. Doch stellen sie alsbald fest, daß sie die Stadt erst mal dem Flussschlamm und den Sümpfen entringen müssen. Es gibt noch keine Schulen, keine Krankenhäuser, sie sind echte Pioniere. Nach und nach folgen noch europäische Handwerker wie die holländischen Zimmersleute van den Linden, Architekten aus Florenz und langsam beginnt auch russischer Adel in der Hoffnung auf einen festen Platz in der Entourage des Zaren in die Stadt zu ziehen.
Der Roman schildert die Stadtgründung aus der Perspektive einer Vielzahl seiner Bewohner und über Jahre hinweg. Er ist sehr hochwertig ausgestattet, mit einer Karte des damaligen Russlands und Europas, sowie einer Übersicht der verschiedenen Inseln, St. Petersburgs. Ein Personenregister führt sämtliche Charaktere des Buches auf (mit Ausnahme des Apothekers, aber den bekommt man gut auf die Reihe, da er einzeln in die Geschichte eingeführt wird und nicht mit anderen Charakteren gleichzeitig). Als ich mit diesem begann, dachte ich zuerst, daß ich wohl heillos in dem Personengewirr versinken würde. Dem ist nicht so, denn die Charaktere werden nach und nach behutsam eingeführt, so daß der Leser nicht überfordert wird. Anders als z.B. bei Tolstoi sind die Personen auch leicht anhand der Namen zu identifizieren und werden nicht mit diversen russischen Koseformen, die für Europäer völlig undurchsichtig sind, angesprochen. Das Personenverzeichnis ist daher noch nicht mal erforderlich, sofern man zügig liest und nicht länger pausiert. Da der Schreibstil sehr ansprechend ist, die Einzelschicksale wirklich sensibel erzählt und der Plot für mich nicht vorhersehbar (aber auch nicht unlogisch), ist es mir auch trotz dem Umfangs des Buches nicht schwer gefallen, das Buch zügig zu lesen.
Was mir gut gefiel, ist dass ich neben dem Einblick in das Leben und die zwiespältige Persönlichkeit Peter des Großen, auch sonst interessantes Wissen über die damalige Zeit und Lebensweise vermittelt bekam. Dass an Russland das Zeitalter der Aufklärung quasi spurlos vorbeigezogen ist und Zar Peter es sich zu seiner persönlichen Aufgabe gemacht hat, Russland von seinem Aberglauben und seiner in altmodischen Traditionen verharrenden Lebensweise fern von Wissenschaft und neuen Erkenntnissen zu befreien und an Europa anzugleichen. Besonders die Niederlande, dieses kleine Land, dicht am Meer und so flach, hat es trotz seiner geringen Größe durch Bildung und Raffinesse zu erheblicher Bedeutung gebracht. Zar Peter entlohnte auch die von ihm herbei gerufenen Ausländer. Wer auf seine Einladung hin kam, der hatte ein festes Grundeinkommen. Gut, daß mag jetzt an meinem Beruf liegen, daß ich das faszinierend finde, aber derartige kleine Infos, die das Leben im damaligen St. Petersburg plastischer gestalten, gibt es zu ganz vielen verschiedenen Lebensbereichen.
So abwechslungsreich wie das Leben ist, ist dieser Roman auch mit Liebesgeschichten gefüllt, mal mehr mal weniger glückliche, aber durchaus berührend. Liebhaber von erotischer Literatur kommen hier aber nicht auf ihre Kosten. Auf Kitsch und Clichées wird verzichtet und dennoch fand ich es sehr berührend. Geschichten, wie sie das Leben schreibt. Auch wenn die damaligen Lebensumstände unseren Komfort nicht boten und das Leben der Leibeigenen mehr als nur armselig war, verzichtet die Autorin auf übertrieben drastische Darstellungen der hygienischen Umstände (das stößt mich bisweilen bei Mittelalterromanen ab). Am Ende kann man sich den weiteren Lebensweg der Protagonisten denken, es ist klar, wer in der neuen Stadt sein Glück gefunden hat und wer daran zerbrochen ist. Eine wirklich runde Sache.
Dieser Roman ist eine Liebeserklärung an die Stadt der Träume von Peter dem Großen. Daher wird die Geschichte durch eine Vielzahl von Einzelschicksalen geschildert, was sehr interessant und bisweilen sehr spannend, traurig oder einfach wunderschön ist. Es beginnt mit der Grundsteinlegung und endet mit der Ernennung zur Hauptstadt des Russischen Reiches 1712. Diesen Zeitraum umfasst auch die Zeittafel, die nicht bis zu Zar Peters Tod geht, aber daß er heute nicht mehr lebt, ist uns allen ja klar. Aber St. Petersburg steht noch immer, allen Unkenrufen und Naturkatastophen zum Trotz, erstrahlt es immer noch in seinem Glanz und fasziniert im Sommer mit seinen weißen Nächten. Allen Regimen die es überdauert hat zum Trotz.
Ein toller Roman, den ich sehr gerne weiterempfehle mit 5 von 5 Sternen.

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